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Varro grammaticus

 

Thema

Die Behandlung der Morphologie in der lateinischen Grammatik des ersten vorchristlichen Jahrhunderts


Zusammenfassung

Das Forschungsprojekt ›Varro grammaticus‹ analysiert die lateinische Grammatik (De lingua Latina) des im ersten vorchristlichen Jahrhunderts lebenden Römers Marcus Terentius Varro vor dem Hintergrund moderner Grammatiktheorien und sprachwissenschaftlicher Historiographie. Da dieses Werk das früheste uns überlieferte Zeugnis antiker grammatischer Sprachwissenschaft ist, wird das Projekt, das schwerpunktmäßig Varros Ausführungen zur Morphologie (Wortbildung und Flexion) untersucht, Aufschluß über die Anfänge grammatischer Kategorienbildung und die Entwicklung der sprachwissenschaftlichen Terminologie in Europa geben können.

 

Stand der Forschung

Varros De lingua Latina (fortan LL) ist das älteste grammatische Werk aus der griechisch-römischen Antike, von dem längere Abschnitte bis heute erhalten sind1. Das Werk umfaßte ursprünglich 25 Bücher. Es gliederte sich in drei Teile: Nach einer Einleitung (LL 1) folgten Ausführungen über die impositio ›Etymologie‹ (LL 2-7), über die declinatio ›Morphologie‹ (LL 8-13) und über die compositio ›Syntax‹ (LL 14 ff.). Die Behandlung von impositio und declinatio erfolgte jeweils in sechs Büchern, von denen die jeweils ersten drei die theoretische Reflexion und die jeweils anschließenden drei die praktische Durchführung enthielten.

Erhalten sind davon jedoch lediglich die Bücher 5 bis 10. Wir besitzen also von der impositio nur die praktische Durchführung (LL 5-7) und von der declinatio nur Varros theoretische Reflexion (LL 8-10). Beide Teile stehen in einem sehr engen sachlichen Zusammenhang. Innerhalb der declinatio behandelt Varro die Regelmäßigkeit bzw. Unregelmäßigkeit morphologischer Formenbildung. Er stellt dies so dar, als habe es einen Streit zwischen ›Anomalisten‹, die von völliger Regellosigkeit in der sprachlichen Formenbildung ausgingen, und ›Analogisten‹, die völlige Regelmäßigkeit forderten, gegeben. Er löst diesen Streit auf, indem er zwei Arten der declinatio unterscheidet. Während es in der Flexion (declinatio naturalis) kaum Unregelmäßigkeiten gebe, sei die Derivation (declinatio voluntaria), durch die neue Wörter geschaffen werden, weitgehend unregelmäßig. Wie sich schon nach dieser knappen Inhaltsangabe leicht erkennen läßt, ist die declinatio voluntaria ›Derivation‹ mit der impositio ›Etymologie‹ deckungsgleich. In beiden geht es darum, auf welche Weise neue Wörter geschaffen werden. Varros Werk ist also, soweit es uns erhalten ist, eine Untersuchung der lateinischen Morphologie.

Die ersten kritischen Ausgaben stammen von Müller (1833) und Spengel (1885). Die neueste und bis heute maßgebliche Gesamtausgabe ist diejenige von Götz/Schöll (1910). Seither sind mehrere Kommentare zu einzelnen Büchern erschienen: Zu Buch 5 (Collart 1954), Buch 6 (Riganti 1978; Flobert 1985, mit neu ediertem Text), Buch 8 (Dahlmann 1940) und Buch 10 (Traglia 1956; Taylor 1996). Vollständige Gesamtübersetzungen von LL bieten Kent (1951, englisch), Traglia (1974, italienisch), Marcos Casquero (1990, spanisch) und andere. Daneben gibt es separate Fragmentsammlungen zu Varro von Wilmanns (1864), Funaioli (1907) und Mazzarino (1955). Neuerdings ist Varros Werk auch durch eine Konkordanz erschlossen (Salvadore 1995). Diese kontinuierliche Publikationstätigkeit belegt ein kontinuierliches Interesse an Varro und seiner Sprachbetrachtung.

Die erste ausführliche Darstellung über Varros Beitrag zur Linguistik bietet Gräfenhan (1844, 267-306). Er sammelt die über Varros Werk verstreuten Termini und ordnet sie danach, ob sie zur »Deklination« oder zur »Konjugation« gehören. Bei Varro selbst nicht belegte Termini kann er durch Konsultation von Fragmenten der zeitgleichen lateinischen Grammatik ergänzen. Gleichsam ohne es selbst zu bemerken, liefert er so den Beweis, daß Varros grammatische Terminologie, so sehr sie auch von der in der späteren lateinischen Schulgrammatik üblichen abweicht, dennoch im 1. Jh. v.Chr. keineswegs unüblich ist.

Die sonstige Literatur des 19. Jh. bietet nur äußerst knappe Besprechungen zu Varros Wortartenlehre. Lersch (1840, 143-153), Egger (1854, 73), Schömann (1862, 12-14) und Steinthal (1891, 219-220) bemerken den Widerspruch zwischen der mehrfach bezeugten Vierteilung der Wortarten anhand der Kriterien ±Kasus und ±Tempus (LL 6,36; 8,44a; 9,31; 10,17) und einer weiteren Stelle (8,44b), an der anscheinend die vier Klassen mit Namen und erläuternden Beispielen versehen werden. Die folgende Übersicht zeigt links die eine Einteilung, rechts die andere.

+ Kasus – Tempus = appellandi    homo ›Mensch‹ Nestor ›Nestor‹

– Kasus + Tempus = dicendi         scribo ›schreibe‹ lego ›lese‹, ›sammle‹

+ Kasus + Tempus

                                  iungendi

                                                           -que ›und‹

– Kasus – Tempus

                                  adminiculandi

                                                            docte ›klug‹ commode ›angemessen‹

Die ersten zwei Klassen sind in beiden Einteilungen identisch. [+Kasus, –Tempus] ist das Nomen, [–Kasus, +Tempus] das Verb. Doch die anderen zwei Klassen entsprechen einander nicht mehr. Die Wortart [+Kasus, +Tempus] meint offensichtlich das Partizip, doch auf der rechten Seite fehlen bei den Beispielen gerade die Partizipien. Die vierte Wortart ist [–Kasus, –Tempus]. Varro hat (LL 10,14) die unveränderlichen Wörter von der Behandlung explizit ausgeschlossen, sie tauchen hier jedoch unter den Beispielen rechts unerwartet in Form der Konjunktion -que wieder auf. Die Stelle wird laut Brandenburg (2005, 71f.) von Zippmann (1870) treffend durch Konjektur gelöst, indem er Partizipien anstelle der einen obsoleten Konjunktion -que einsetzt (vgl. LL 10,17), so daß die pars iungendi das Partizip [+Kasus, +Tempus] und die pars adminiculandi das Adverb2 [–Kasus, –Tempus] umfaßt.

Im 20. Jh. kommt eine neue Forschungsrichtung auf, die nicht mehr den grammatischen Beitrag Varros untersucht, sondern nach Varros Umgang mit seinen Quellen fragt. Hinter seiner Lehre vermutet man nun griechische Vorgänger. Für die einen ist er ein Plagiator, der gedankenlos von seinen Vorgängern abschreibt, für die anderen ein genialer Geist, der zum ersten Male die zuvor ungeordneten Erkenntnisse in einen systematischen Zusammenhang bringt (hierzu Mette 1931a/b; Fehling 1956/57 und Taylor 1977a/b, 1987, 1988, 1991). Diese Diskussion hat zwar von der eigentlichen linguistischen Leistung Varros abgelenkt, andererseits aber auch deutlich gemacht, daß Varro ganz in der griechischen grammatischen Tradition steht, und daß diese sich von der späteren lateinischen Tradition sowohl terminologisch als auch methodisch unterscheidet.

Erst mit Taylor (1974; 1996) rückt Varro wieder als Linguist in den Blickpunkt. Taylor untersucht erneut, wie Varro die declinatio der lateinischen Sprache beschreibt, und stellt heraus, daß Varros Beschreibung anderen lateinischen Grammatikern überlegen ist. So ist etwa seine Einteilung der Nomina in Deklinationsklassen streng morphologisch anhand des Stammauslauts durchgeführt (Taylor 1977a, 130; zu LL 10,62). Einzig die Unterscheidung des langen und des kurzen ‹i› hat er nicht berücksichtigt. Ebenso ist auch seine Tempuslehre anderen Grammatikern überlegen, da er allein das Futur II in sie integriert hat (Taylor 1977a, 131; 1988, 40). Andere antike Grammatiker verschweigen bzw. ignorieren dieses Tempus schlichtweg.

Dieser Umschwung in der Varroforschung hat ein erneutes Interesse auch an anderen Teilen der varronischen Sprachbeschreibung wachgerufen. Pfaffel (1981) greift die vorher nur vereinzelten Untersuchungen zur etymología (z.B. Muller Jzn 1910) auf. Etymologische Deutungen waren in der Antike schon früh aufgekommen und beruhten (etwa in Platons Kratylos) überwiegend auf Paronomasien, also auf (morpho-) phonologischer Ähnlichkeit zwischen Wörtern, die dann im Sinne eines ›tieferen‹ inneren Zusammenhanges ausgelegt wurde. Die antike etymología entspricht somit nicht der modernen Etymologie. Die diachrone Perspektive spielt in ihr zwar eine gewisse Rolle, wenn z.B. das gegenwärtige Sprachstadium aus älteren Stadien3 oder lateinische Wörter aus griechischen hergeleitet werden (LL 6,96). Aber die große Masse der varronischen Etymologien behauptet einen synchronen morphologischen Zusammenhang zwischen verschiedenen Wörtern wie z.B., daß canis ›Hund‹ von canere ›Laut geben‹ abgeleitet sei (LL 7,32). Nicht immer drängt sich der angenommene morphologische Zusammenhang so sehr auf (can-) wie hier. Die Bestandteile der Wörter können auch eine oder mehrere der folgenden Umformungen unterlaufen (LL 5,6):

1. demptio ›Verlust‹ (d.h. Elision), [ x → ø ]

2. additio ›Hinzufügung‹ (d.h. Epenthese), [ x → xy ]

3. traiectio ›Vertauschung‹ (d.h. Metathese), [ xy → yx ]

4. commutatio ›Wandel‹, [ x → y ]

Hierdurch kann ein morphologischer Zusammenhang auch dort angenommen werden, wo die phonologische Wortgestalt ihn nicht unmittelbar zu erkennen gibt, z.B. zwischen capere ›nehmen‹ und accipere ›hinnehmen‹ (cap- → cip-, LL 7,90) oder frequens ›zahlreich‹ von *fere et quom ›ungefähr und wann‹ mit Ausfall von ‹e›, ‹e› und ‹t› im Wortinneren und Hinzufügung von ‹s› im Auslaut (LL 7,99). Pfaffel kann zeigen, daß diese Arbeitsweise zwar für Willkür offen ist, aber bei Varro (abgesehen von einigen Ausnahmen wie z.B. der zuletzt erwähnten Ableitung von frequens) nicht willkürlich, sondern methodisch äußerst reflektiert und dementsprechend — vom Standpunkt der modernen Etymologie betrachtet — sehr erfolgreich angewendet wird.

Das Forschungsprojekt schließt sich an die Arbeiten von Taylor an, der an vielen Einzelbeobachtungen in wesentlichen Punkten Varros linguistische Leistungen herausgestellt hat. Das Projekt setzt Taylors Arbeiten fort und geht in zweierlei Hinsicht über ihn hinaus. (a) Zum einen soll aus linguistischer Perspektive nicht nur an Einzelheiten gearbeitet, sondern aus diesen das grammatische System Varros in seinem inneren Zusammenhang so weit als möglich rekonstruiert werden. (b) Zum anderen soll aus philologischer Perspektive Varros Lehre nicht bloß isoliert für sich betrachtet, sondern in ihren historischen Kontext eingeordnet werden. Beides hängt eng zusammen: Varro muß als Grammatiker ernst genommen werden, doch erst eine genaue Quellenkritik ermöglicht uns, seinen eigenen Beitrag in vollem Umfange überhaupt zu erkennen.

Arbeitsbericht

Brandenburg konnte in mehreren Vorträgen über die antike Wortartenlehre zeigen, daß Varro mit seinen streng morphologischen Kriterien innerhalb der antiken Grammatik eine Sonderstellung einnimmt, die gerade ihn zu einem besonders geeigneten Ausgangspunkt für eine Untersuchung der antiken Morphologie macht.

Zuletzt hat sich Brandenburg in seiner Dissertation (2005) eingehend mit der griechischen Wortartenlehre befaßt. Dabei zeigte sich am Rande, daß Varro dank seiner Wortarten-Terminologie in der Lage ist, mehrdeutige griechische Wortartenbezeichnungen zu disambiguieren (LL 8,45).

Durch die Trennung zwischen nominatus, nomen und vocabulum sowie zwischen articulus, pronomen und provocabulum kann Varro die Ambiguität der griechischen Termini ónoma und árthron in der lateinischen Übersetzung aufheben. Wenn ónoma ausschließlich ›Eigenname‹ bedeutet, übersetzt er es mit nomen; wenn es aber Appellativa und Eigennamen zusammengenommen bezeichnet, übersetzt er es mit nominatus. Und wenn árthron ausschließlich ›Artikel‹ heißt, übersetzt er es mit provocabulum; bezeichnet es jedoch Artikel und Pronomina zusammengenommen, dann übersetzt er es mit articulus (Brandenburg 2005, 73)4.

 

Ziele

Es gibt wenig methodische oder theoretische Reflexion über die Historiographie der Sprachwissenschaft. Hörner (1981, 112-144) unterscheidet drei Modelle für Wandel in der Wissenschaft: 1. das Kumulationsmodell, das explizit wohl nie vertretene, aber doch gelegentlich implizit (und unreflektiert) vorausgesetzte Modell, daß Wissenschaft gleich Wissen sei und Fortschritt in ihr lediglich aus dem Hinzufügen von neuem Wissen zum bereits vorhandenen bestehe, 2. das Revolutionsmodell, nach dem Wissenschaft stets in einem Paradigma stattfindet und zu bestimmten Zeiten das überkommene Paradigma durch ein neues ersetzt wird, wodurch die Wissenschaft einen neuen Stand erreicht, und 3. das Evolutionsmodell, nach dem Wissenschaftswandel ein kontinuierlicher und nur willkürlich in Abschnitte zu zerlegender Prozeß der allmählichen Veränderung von Gegenständen ist, die dabei ihre Identität nicht verlieren. Diese Annahmen können anhand von Varro als einem historischen Testfall überprüft werden. Aus LL läßt sich sehr gut ablesen, wie grammatische Konzepte entstehen, woher sie genommen sind und wie sie sich weiterentwickeln.

In Varros Fall besitzen wir einen vergleichsweise kleinen Teilabschnitt eines ansonsten verlorenen Werkes. Die sechs erhaltenen Bücher enthalten keinerlei ›meta-grammatikographische‹ Aussagen. Die grammatische Theorie muß also aus der grammatikographischen Praxis erschlossen werden. Uns geht es hier besonders um folgende drei, teilweise schon in dem obigen Forschungsüberblick hervorgehobene Themen: Terminologie, Morphologie und Morphosemantik. Bei jedem dieser Themen ist zu fragen: (a) Was betrachtet Varro als seine Aufgabe? (b) Mit welcher Methode oder Fragestellung geht Varro an diese Aufgabe heran? (c) Auf welche Probleme stößt er dabei? (d) Wie löst er diese Probleme?

1. Terminologie: Varros grammatische Fachterminologie wirft verschiedene Fragen auf:

  1. Wie kommt Varro zu seiner Terminologie? Bildet er Neologismen, übernimmt er Wörter aus der Alltagssprache, schafft er Lehnübersetzungen der griechischen Fachterminologie?

  2. Welche grammatischen Kategorien und Subkategorien nimmt er an? Kennt er z.B. Modus oder Genus Verbi?

  3. Entspricht jedem Terminus eine einzige Kategorie und umgekehrt jeder Kategorie ein Terminus oder nicht?

  4. Bilden die Termini bzw. die durch sie bezeichneten Kategorien eine systematische Taxonomie?

Selbst wenn man davon ausgeht, daß Varro seine Terminologie größtenteils aus dem Griechischen übersetzt hat, schafft eine solche Übersetzung dennoch eine neue Terminologie. Die lateinischen Termini sind nie vollkommen deckungsgleich mit ihren griechischen Vorbildern, z.B. ist griechisch ónoma neben ›Nomen‹5 auch ganz allgemein ›Wort‹ und umgekehrt lateinisch verbum sowohl ›Verb‹ als auch ›Wort‹.

Daneben führt Varro aber gelegentlich auch Kunstworte in seine grammatische Terminologie ein (so z.B. in der oben erwähnten Vierteilung der Wortarten), die in der griechischen Vorlage nicht vorkommen bzw. nicht nachweisbar sind. Durch solche Neologismen vermeidet er Mehrdeutigkeiten, die ansonsten in der antiken grammatischen Fachterminologie vorherrschen: So etwa bei den oben bereits besprochenen mehrdeutigen griechischen Termini ónoma ›Nomen‹ und árthron ›Artikel‹.

Die varronische Terminologie ist also kein Spiegelbild der griechischen. Durch die Untersuchung seiner Termini und ihrer Bedeutung läßt sich das System der grammatischen Kategorien bei Varro rekonstruieren. Als grammatische Kategorien werden zumeist sowohl Kasus, Tempus usw. als auch deren Ausprägungen (Nominativ, Akusativ, Dativ bzw. Präsens, Futur, Perfekt usw.) aufgefaßt. Um beide Ebenen begrifflich zu unterscheiden, wird in der neueren deutschen grammatischen Fachliteratur die höhere Ebene (Kasus, Tempus, usw.) »Kategorisierung« (Eisenberg 1998: 17-18; 1999, 18; Hoffmann 1997, 25-26) oder »Kategoriengefüge« (Wurzel 1984, 82) genannt. Die anglophone Literatur macht es umgekehrt, beläßt auf der höheren Ebene den Terminus category und benennt die untere Ebene in sub-category um (Bloomfield 1926, 159-160). Unabhängig davon, welche der beiden Lösungen man bevorzugt, kann man diese Differenzierung für die Untersuchung der varronischen Terminologie fruchtbar machen. Es kann nun danach gefragt werden, ob Varro zwischen beiden Ebenen terminologisch überhaupt unterscheidet, auf welcher der beiden Ebenen die Terminologie elaborierter ist, und ob sich anhand dieser Beobachtungen bestimmte Entwicklungslinien in der grammatischen Terminologie abgrenzen lassen.

2. Morphologie: Folgende Fragen ergeben sich:

  1. Entsprechen die varronischen Konzepte impositio und declinatio unseren Konzepten ›Derivation‹ und ›Flexion‹? Wie rechtfertigt Varro diese Unterscheidung?

  2. Wie ordnet er die verschiedenen Wortformen einem Lexem zu?

  3. Wie gelangt er zu morphologischen Paradigmen?

  4. Wie geht er mit ›Unregelmäßigkeiten‹ in der Formbildung um?

Es ist unwahrscheinlich, daß Varros Unterscheidung zwischen (α) impositio und (β) declinatio mit der modernen Unterscheidung zwischen Derivation und Flexion genau deckungsgleich ist. Es muß herausgestellt werden, wo Varro die Grenze zwischen ihnen zieht6.

(α) Im Bereich der declinatio nimmt Varro das Wort als kleinste Einheit der Sprache an. So entsteht eine morphologische Beschreibung der lateinischen Sprache, die Hockett (1954) treffend als Word-and-Paradigm bezeichnet hat7. Hier stellt sich die Frage, wie und nach welchen Kriterien er lateinische Wortformen zu Paradigmen zusammenstellt8. Denn von den Griechen kann er nur die Idee des Paradigmas an sich übernommen haben; aber welche lateinischen Formen zu einem Paradigma zusammengehören, das muß seine eigene Entdeckerleistung gewesen sein.

Es ist außerdem den verschiedenen Wortformen nicht immer anzusehen, daß sie zu ein und demselben Lexem gehören, z.B. lieber als Komparativ zu gern oder im Lateinischen tuli als Perfekt zu fero ›bringe‹. Hier muß ermittelt werden, wie Varro mit Suppletion umgeht.

(β) Die impositio wäre im modernen Sinne zwischen ›Etymologie‹ und ›Derivation‹ anzusiedeln. Hier bieten die oben (2.1.) erwähnten vier Umformungsarten (Verlust, Hinzufügung, Vertauschung und Wandel) ein Instrumentarium, das fähig ist, apophonische Veränderungen (d.h. Ablaut, Umlaut und andere Veränderungen) zu beschreiben. Auch Spekulationen über die Bedeutung ›phonästhetischer‹ Elemente (wie z.B. gl  in engl. glitter, gleam und glow, vgl. Anderson 1992, 49) sind seit den Anfängen in Platons Kratylos fester Bestandteil der antiken Etymologie.

Varros Ansatz weicht von anderen Grammatikern dahingehend ab, daß Varro morphologische Kriterien zugrunde legt, z.B. bei seiner Vierteilung der Wortarten, oder bei der Bestimmung der Deklinationsklassen. Sowohl in der griechischen Tradition als auch in der späteren lateinischen Schulgrammatik überwiegt die Verwendung semantischer Kriterien.

Falls sich Ähnlichkeiten zwischen Varros Lehre und modernen morphologischen Theorien herausstellen sollten, kann in diesen Fällen außerdem gefragt werden, inwieweit Varro der modernen Morphologie vorgreift.

3. Morphosemantik9: Hier gilt es, folgende Fragen zu beantworten:

  1. Welche Vorstellung hat Varro von der Bedeutung grammatischer Morpheme?

  2. Wie beschreibt er ihre Bedeutung?

Die Beschreibung der Bedeutung grammatischer Morpheme hat ihre Tücken. Das Genus eines Nomens ist nicht dasselbe wie das biologische Geschlecht des von ihm bezeichneten Objektes in der materiellen Welt. Plural ist nicht immer Vielzahl, Singular nicht immer Einzahl. Wie Varro diesen Problemen in seiner Sprachbeschreibung begegnet, verrät uns viel über seine ›Sprachtheorie‹, seine Zeichentheorie, soweit er eine solche hat, und sein Sprachmodell. Seine starke Betonung des usus ›Gebrauch‹ (LL 9,56-71; 10,72-74), legt die Arbeitshypothese nahe, daß nicht die Sprache dem Sprecher gebietet, diese oder jene grammatische Kategorie zu verwenden, sondern es für Varro der Sprecher selbst ist, der die Sprache je nach seinem Ausdruckswillen verwendet.

Die Ergebnisse der Untersuchung besitzen eine weitere Relevanz auch für die rezente Linguistik, da sie bewußtmachen, welche und wie viele der Konzepte, mit denen Linguisten heute noch arbeiten, aus der Antike stammen. Daß ein Terminus aus der Antike stammt, ist an sich kein Grund, ihn sogleich zu verdammen, aber es gibt eben auch bestimmte Ansichten der antiken Grammatik, die zwar für Griechisch und Latein, nicht aber in einem weiteren typologischen Rahmen auch auf Sprachen anderen Typs zutreffen, oder auch solche, die das Richtige mehr durch Zufall treffen. Wir danken Martin Haspelmath, uns darauf gestoßen zu haben, daß man unterscheiden muß zwischen:

(1) echten Einsichten,

(2) zufälligen oder willkürlichen terminologischen und klassifikatorischen Entscheidungen, die noch heute teilweise wirksam sind,

(3) Einflüssen der Zufälle der griechischen oder lateinischen Sprache auf die grammatischen Theorien, und

(4) klaren Irrtümern.

Insofern stellt unsere Arbeit einen wichtigen Beitrag nicht nur zum Verständnis der antiken Grammatiktheorie, sondern auch zur Entwicklungsgeschichte des grammatischen Denkens und somit zur gegenwärtigen Standortbestimmung der modernen Linguistik dar.

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1) Von der griechischen und römischen grammatischen Fachliteratur vor, um und nach Varro sind uns nur Fragmente erhalten, d.h. Zitate ihrer Lehren bei anderen, späteren Autoren. Die Dionysios Thrax (spätes 2. Jh. v.Chr.) zugeschriebene Téchnē grammatiké ist alles andere als umfangreich und in ihrer Echtheit umstritten. Danach ist der erste Grammatiker, von dem wir ganze Werke besitzen, Apollonios Dyskolos (2. Jh. n.Chr.).

2) Da einige Adverbien komparierbar sind, gehören sie (und nur diese!) doch zu den veränderlichen Wörtern.

3) Dies führt zur ersten Formulierung des Rhotazismus: ‹s› → ‹r› / V_V (LL 7,26).

4) Nach griechischer Terminologie schloß das árthron ›Artikel‹ sowohl Artikel als auch Relativpronomen ein. So hat Latein nach antiker Diktion durchaus Artikel, nämlich eben Relativpronomina. In der postvarronischen lateinischen Schulgrammatik sind jedoch die Relativpronomina als Pronomina klassifiziert worden, so daß Latein nunmehr als artikellos galt.

5) Wie oben erwähnt ist auch ónoma ›Nomen‹ wieder doppeldeutig, indem es teils nur die Eigennamen, teils diese zusammen mit den Appelativa bezeichnet.

6) Bańczerowski (1999) faßt neuerdings den Begriff ›Flexion‹ so weit, daß er auch Derivation einschließt, ja sogar syntaktische und semantische Beziehungen zwischen Wortformen berücksichtigt.

7) Die ›klassischen‹ Sprachen werden ausdrücklich erwähnt (Hockett 1954, 210): »This is the word and paradigm (WP) model, the traditional framework for the discussion of Latin, Greek, Sanskrit, and a good many more modern familiar languages.« Weiteres zu WP bei Robins (1959), Matthews (1972), Zwicky (1985) und Anderson (1977; 1992).

8) Ein Paradigma setzt zumindest (a) die Unterscheidung zwischen Flexion und Derivation und (b) die Kenntnis der grammatischen Subkategorien voraus. Vgl. dazu Lyons (1968, 292), Plank (1991).

9) Den Terminus ›Morphosemantik‹ sucht man in den linguistischen Fachwörterbüchern und Enzyklopädien vergeblich; wir verwenden ihn hier, um die Semantik grammatischer Morpheme (im Gegensatz zur Semantik lexikalischer Morpheme) zu benennen. Diese Verwendung des Terminus ist nicht ganz neu. In ähnlicher Weise definieren Simeon (1969, 856) das »morfosem« als »isto što i kategorijski oblik« und Mayerthaler (1980, 8) die »Morphosemantik« als »Fregesche Semantik morphologischer Operationen.«